Lob des Hörsinns

Mehr als nur Physik

Schon vor der Geburt setzen wir unsere eigenen Prioritäten. Wir kümmern uns um das Wachstum des Allernotwendigsten, vertagen den Rest auf die ersten Lebensjahre und entwickeln nur einen einzigen Sinn wirklich vollständig: den Hörsinn. Denn den brauchen wir schon vor der Geburt, um unsere Umwelt kennen zu lernen und uns orientieren zu können.

Unser Hörsinn ist eine großartige Erfindung. Dabei ist er eigentlich nichts anderes als ein Erfassungs- und Auswertungssystem für Luftdruckschwankungen – allerdings ein hochsensibles! Denn bei einem nominalen Luftdruck von 100.000 Pascal nehmen unsere Ohren bereits Schwankungen ab 0,000.02 Pascal als Hörreiz wahr. (zum Verständnis: Bei einem Schalldruck von ca. 20 Pascal ist die Schmerzgrenze erreicht.) Die entscheidende Arbeit aber leistet das Gehirn: es sammelt Erfahrungswerte, bringt Hörereignisse mit anderen Sinneswahrnehmungen in Zusammenhang, stellt einen permanenten Direktzugang zum Unterbewusstsein her, ergänzt fehlende akustische Informationen selbständig und entscheidet zwischen wichtigen und unwichtigen Reizen.

Unser eingebautes Hochleistungsrechensystem ist mit ein paar Gesprächen und ein wenig Musik noch längst nicht ausgelastet. Nebenbei kümmert es sich zum Beispiel anhand minimaler Laufzeitunterschiede um unsere Raumortung. Wenn unsere Ohren und Nerven im Alter nachlassen, ergänzt es mit gelernten Hörerfahrungen die Lücken. Und bei Reizüberflutung regelt es unsere akustische Sensibilität ganz einfach herunter.

Als einziger Sinn ist das Hören rund um die Uhr und unser ganzes Leben lang unterbrechungsfrei aktiv. Evolutionär mag das an seiner Funktion als Alarmsystem liegen: Auch heute noch werden Mütter blitzartig wach, wenn das Baby schreit. Die Väter wiederum (weil ohne Mutterbrust) verschlafen solche Ereignisse – ihr Gehirn fühlt sich nicht verantwortlich.

Wir sind Hörlebewesen. Sicher würden Fledermäuse oder Elefanten über unsere Fähigkeiten nur müde lächeln – aber schließlich ist unser Hörsinn kein Laborsensor. Wir hören, was für uns evolutionär relevant ist. Deshalb funktioniert unser Hören übrigens auch nicht linear, sondern optimiert für den Bereich der menschlichen Sprache. Wir hören zum Beispiel hohe Töne stärker, weil wir sie für die Sprachkommunikation und die Raumorientierung brauchen. Bei geringen Lautstärken nehmen wir Höhen sogar noch sensibler wahr – eine Art umgekehrter „Loudness“-Schaltung.

Wir unterschätzen unseren Hörsinn gern. Wie ungerecht das ist, merken wir, wenn wir uns nur ein paar Minuten unter komplettem Hörschutz bewegen. Unser Gehör ist kein Messinstrument, sondern eine unverzichtbare Lebensfunktion und gleichzeitig eine echte Genussquelle: Wo es gut klingt, können wir uns zu Hause fühlen.

Wir sollten unseren Ohren viel mehr trauen.